Learning to Forget the Past; Yearning to Forget the Future

The following, in German, arose out of the slides and notes I made for a talk given for the German Society for Electroacoustic Music (DEGEM) at ZKM Karlsruhe on 28.9.2024. The theme for the talks was Perspectives on Emerging Forms of Experimental Music: Futurisms I. From Now to Tomorrow | Emergence and Experiment and my wide-ranging talk’s title was Learning to Forget the Past; Yearning to Forget the Future. It deliberately posed more questions than it answered, in the hope that a discussion would ensue to address these.

PrÀludium

ein Paradox

Ich sage vorher: was in der Zukunft passieren wird, ist der Beweis dafĂŒr, dass man die Zukunft nicht vorhersagen kann.

(Michael Edwards)

Auf der anderen Seite, es ist natĂŒrlich vollkommen akzeptable, von Experten zu verlangen, dass sie klare Betonungen fĂŒr die aktuelle und kommende Zeit setzen. Das mache ich auch gerne, wenn auch auf Risiko. Aber ein paar lustige Vorhersagen kann ich nicht auslassen

Television won’t be able to hold on to any market it captures after the first six months. People will soon get tired of staring at a plywood box every night.

(Darryl Zanuck, 20th Century Fox, 1946)

The wireless music box has no imaginable commercial value. Who would pay for a message sent to nobody in particular?

(David Sarnoff’s Associates rejecting a proposal for investment in the radio in the 1920s)1

Two years from now, spam will be solved.

(Bill Gates, World Economic Forum, 2004)

I predict the Internet will soon go spectacularly supernova and in 1996 catastrophically collapse.

(Robert Metcalfe, founder of 3Com and inventor of Ethernet, writing in a 1995 InfoWorld column)

Wenn man sowas liest, denkt man an alle KI-Skeptiker, v.a. die, die behaupten, dass KI kein Einfluss auf die Kunst haben kann oder wird oder sollte. Doch, wird sie, aber das ist was ich mit “Yearning to Forget the Future” andeute. Die Vergangenheit und die nĂ€here Zukunft sollten uns so weit wie möglich klar sein aber nicht unterdrĂŒcken. KI und Ă€hnliches sollten wir nicht vergessen, sondern begrĂŒssen, aber uns nicht unter Druck fĂŒhlen, sie unbedingt intensiv oder ĂŒberhaupt zu benutzen.

KI heisst nicht, das Ende von der Kunst, sondern sie ist nur ein neues Werkzeug, um Material zu generieren und zu Kuratieren, zum Beispiel. Vergessen wir lieber nicht, wie oft wir solche Aussagen gehört haben: Samplers werden Musiker ersetzen; die Photographie wird die Malerei töten (sag’s bitte dem  Anselm Kiefer oder Gerhard Richter); oder Technologie allgemein wird die MusikalitĂ€t zerstören (wobei Musik immer hoch technologisch war). Und trotz allem macht der Mensch immer weiter Musik und Kunst.

Keith Jarrett

Also, die Voraussagen waren lustig aber jetzt kommen wir eher zur Sache:

We also have to learn to forget music. Otherwise we become addicted to the past.

(Keith Jarrett)

Folgendes ist Tatsache: Neue Musik, auch Experimentelle und Elektronische Musik, ist eine Entwicklung aus westlich klassischer Musik: ihre Herkunft ist klar entlang der Linie Machaut->Josquin->Monteverdi->Bach->Haydn->Beethoven->Wagner->Mahler->Schoenberg->Stockhausen und dazu Jazz/Pop/Rock. Aber Klassik-Liebhaber sind eher nicht unser Publikum. Und gar nicht in der Elektronik. Insofern sind die Vergleiche oder Erwartungshaltungen eines solchen Publikum schlicht nicht unser Problem.

ZurĂŒck aber zum Jarrett Zitat: es bedeutet nicht, dass wir aktiv Musik vergessen sollten, sondern, dass wir es relativieren und nicht anhimmeln sollten, um weiterzukommen und um neue Formen und Hörgewohnheiten zu gewinnen—ja vielleicht auch mit KI.

Es lebe die Lautsprecher-Musik

Tape music is dead

(Luciano Berio, 1975 (?))

York Hoeller hat mit einer Ă€hnlichen Aussage fĂŒr einen Aufschrei in 2001 gesorgt:

The creation of pure tape pieces seems to be obsolete.

(York Höller) 2

Sogar wenn dies wahr wĂ€re, sollten wir Tonbandmusik vergessen? Nein! Allerdings, sie Tonbandmusik zu nennen hilft nicht gerade ein GefĂŒhl fĂŒr “im Jetzt zu sein” zu erzeugen. Lieber Lautsprecher-Musik oder Fixed Media: Stereo/Multichannel Audio (bitte).

Es gibt aber immer (mehr!) noch einen Platz fĂŒr hochwertige immersive Klangerlebnisse, trotz der Aussagen von Holler—hier dazu noch eine:

The spatialization of music is a superficial quality that seems to be attractive at first but quickly loses its excitement for the experienced listener

(York Hoeller, 2001)

Immersiver Klang hat ein breites Publikum: Wir kennen das aus dem modernen Kino. Auch die Vorbereitung von szenen- oder objektbasierten Audioformaten hat eine grĂ¶ĂŸere Chance als z.B. 5.1 Surround, da sie Lautsprecher-Position-unabhĂ€ngig ist und binaurale Kopfhörererlebnisse in der Tat reicher als Standard-Stereo sind. Aber ZKM ist nicht fĂŒr jeden leicht zugĂ€nglich und stellt vielleicht das alte Model dar: Subventionen im Grossformat. Vielleicht ist die Kammerelektronik (nach Roman Pfeifer) etwas passender fĂŒr viele.

Ich denke aber, die Frage, wohin sich die Lautsprecher-Musik entwickeln wird, hĂ€ngt davon ab, wo die Erfahrung von Musik im Mittelpunkt steht oder stehen sollte—im Konzertsaal oder online, zum Beispiel? Oder geht es um hybride AnsĂ€tze, bei denen das Online-Erlebnis die Norm ist und Konzertspektakel diese ergĂ€nzen und fördern (Ă€hnlich wie bei Pop)? In diesem Fall mĂŒssten die Konzerte lohnende Extras bieten, so wie viele exzellente Lautsprecher, aber auch Licht-, Video- und Performance-Aspekte; auch soziale Erweiterungen wie KĂŒnstlergesprĂ€che und Diskussionen, die wir ja schon kennen—das muss weiter gehen und online gestellt werden.

Ludger BrĂŒmmer

Oder, um zurĂŒck zu gehen, ist die Lautsprecher-Musik doch schon ‘tot’, weil sie so schwierig zu verstehen ist (sowie die Instrumental-Neue-Musik, aber ohne die sichtbare und bekannte Referenz-Instrumente)? Insofern als es ein Problem mit der Rezeption nicht-kommerzieller elektronischer Musik gibt, liegt das Problem in den musikalischen Strukturen selber vielleicht? Wie Ludger schon vor 30 Jahren gesagt hat:

the problem for the composer of computer music is therefore to create a composition that contains enough redundant (i.e., reused) information and a clear enough grammar within the composition to enable listeners to understand what they hear.

(Ludger BrĂŒmmer, 1994)

Also, Ludger hat Computer-Musik genannt, deswegen jetzt eine Hoffnung eher als eine Prognose von mir:

Electronic music of the future will be coded (or prompted), not sequenced

(Michael Edwards, 2024)

….und zwar weil Digital Audio Workstations (DAWs) stagniert haben.

Even in the commercial software industry, the marketing departments of most audio software companies have not yet fully grasped the post-digital aesthetic; as a result, the more unusual tools emanate from developers who use their academic training to respond to personal creative needs.

(Kim Cascone, 2000)

Kim Cascone

DAW’s sind immer noch von dem virtuellen Mischpult besessen. Wir mĂŒssen aber Code schreiben, um aus der Maschine zu holen, das was frisch und zukunftstauglich ist, und um das zu tun, mĂŒssen wir die Sprachen der Maschine beherrschen. Aber wie sollten wir programmieren heutzutage? Durch KI Prompts vielleicht?

 

Ich persönlich beschĂ€ftige mich immer weniger mit der Spezifizierung fester musikalischer Details und interessiere mich zunehmend fĂŒr die Herstellung flexibler Software, die ein musikalisch-strukturelles Potenzial schafft. Zu diesem Zweck sind in meinen algorithmischen Werken die generativen Ideen und ihr Ausdruck in der Software der Kern des StĂŒcks, nicht die Details einer von ihnen erzeugten Partitur oder Klangdatei. Anders ausgedrĂŒckt: Die fixe Partitur bzw. Klangdatei ist nicht die Essenz der Musik, sondern ein Werkzeug, um eine mögliche Umsetzung der in der Software entwickelten Ideen zu erreichen—ich tausche hiermit lediglich einen Code gegen einen anderen aus. So, ist die Partitur ‘emergent’ aus dem Code, oder ist die klingende Musik emergent aus beiden?

Das nÀchste Release-Format?

Michael Edwards: music app, 2015

Wir haben noch nicht damit begonnen, das Potenzial von Apps fĂŒr die nicht fixierte Erfahrung eines MusikstĂŒcks zu erschließen, bei der vielleicht eine algorithmische Struktur besser aufgedeckt werden kann.  Aber ich wĂŒrde sagen, dass das Potenzial fĂŒr die Verbreitung von Musik per App enorm gross ist.

Apps ermöglichen es, musikalische Ideen in Code zu kapseln und direkt an die Öffentlichkeit zu bringen, ohne dass sie in irgendeiner Weise fixiert, ‘realisiert’ oder eingeschrĂ€nkt werden mĂŒssen. Möchten Sie, dass Ihr StĂŒck ewig weiterlĂ€uft und sich spontan neu konfiguriert? Programmieren Sie es so. Sie wollen eine flexible Anzahl von AusgabekanĂ€len? Konfigurieren Sie die Optionen und lassen Sie den Hörer oder das Audio-System entscheiden. Möchten Sie verschiedene QualitĂ€tsstufen anbieten, von 256k mp3 bis hin zu 192KHz 32bit Studio Master? Lassen Sie die Bandbreite und die WĂŒnsche der Zuhörerin entscheiden. Möchten Sie eine Vielzahl verschiedener Mastering-AnsĂ€tze, die auf das Hören im Zug oder die Wiedergabe auf audiophilen GerĂ€ten in einem ruhigen Raum zugeschnitten sind? FĂŒgen Sie verschiedene Masterdateien zur Auswahl hinzu oder integrieren Sie digitale Signalverarbeitungsroutinen in Echtzeit, um das beste Erlebnis fĂŒr die jeweilige Hörumgebung zu bieten.

Übrigens Brian Eno hat etwas verwandtes vor fast 30 Jahren vorausgesehen (!?):

I really think it is possible that our grandchildren will look at us in wonder and say: “You mean you used to listen to exactly the same thing over and over again?”

(Brian Eno, 1996)

Ist das nun eine schon verpasste Gelegenheit oder kommt es noch?

Malcolm McLuhan

Das Medium ist (immer noch) die Botschaft

Und das sollte vielleicht noch mehr der Fall sein

Oder: warum wir neue Metanarrativen brauchen

McLuhans Satz „Das Medium ist die Botschaft“ mag 60 Jahre alt sein, aber er bezog sich nicht auf eine VerĂ€nderung, die in den 1960er Jahren stattfand, sondern auf eine zeitlose Funktion jeglicher Technologien, die allesamt Erweiterungen unseres physischen Selbst sind und unsere Wahrnehmungen durch das Potenzial des Mediums neu verdrahten. Dies gilt fĂŒr die elektronische Musik ebenso wie fĂŒr das Streichquartett, das Fresko, den Film oder die sozialen Medien.

Aber, um ein bisschen provokant zu sein, wenn das Medium die Botschaft ist, dann ist vielleicht DJ-Turntablism die reinste Art der Elektronischen Musik? Es könnte uns egal sein, aber die Offenlegung des Mediums erscheint mir als sehr wichtig. Vielleicht haben wir, in einem neuen StĂŒck zum Beispiel, signifikante Strukturen von perfektem immersivem Klang, aber das ist nicht alles. Es wird zum Beispiel Pausen, Störungen, Unterbrechungen, plötzliche Style-Wechsel, Kaputte-Lautsprecher-Solos und hörbares Vorspulen geben. Mit anderen Worten, eine MetaerzĂ€hlung, die die Aussetzung der UnglĂ€ubigkeit bricht (vom Englischen: Suspension of Disbelief), d.h. es bringt diese UnglĂ€ubigkeit in den Fokus und sie hervorhebt, weil eben die Technologie enthĂŒllt wird.

Lyotards berĂŒhmte Definition von Postmodernismus als „UnglĂ€ubigkeit gegenĂŒber MetaerzĂ€hlungen“ 3 wird in diesem letzten Bespiel sowohl durch Ă€sthetische PluralitĂ€t und ‘PromiskuitĂ€t’ bestĂ€tigt wie auch geleugnet, indem bereits strukturierten Materialien eine Metastruktur aufgezwungen wird, die ihrerseits eine von den konventionelleren Materialien getrennte Struktur bildet. Auf diese Weise sagen wir, etwas plump gesagt, dass wir nicht an eine einzige Ă€sthetische oder historisch-technologisch-soziale ErzĂ€hlung glauben.

Wir haben also die MetaerzĂ€hlung im Sinne von Lyotard – als eine eher vorurteilsbehaftete historische Geschichte, die darauf abzielt, die Interessen der MĂ€chte zu vereinheitlichen – gegen die kĂŒnstlerische MetaerzĂ€hlung, die fremde Strukturen auferlegt, die die KĂŒnstlichkeit des Mediums und seiner Wahrnehmung aufdecken. Interessant hier ist, musikalisch gesehen (und wenn man etwa fĂŒnfzig Jahre zurĂŒckgeht), dass Hendrix ein Publikum ins Aufnahmestudio einlĂ€dt, um die Live-Situation zu simulieren, oder, dass Marvin Gaye seine Musik in ein Party-Ambiente schichtet: sie schaffen damit eine MetaerzĂ€hlung, aber andererseits kehren sie diese um, indem sie wiederum die Aussetzung des Unglaubens verlangen.

Aber warum ist das alles wichtig? Um die Illusion zu brechen; um die Maschine und die Machenschaften zu enthĂŒllen; um die Maschine zu brechen; um den Glauben an die Maschine zu brechen; um das menschliche Element (wenn nicht allzu pathetisch jetzt) und den menschlichen Geist wieder einzufĂŒhren; und letztlich um eine positive MetaerzĂ€hlung, oder noch besser, einen kritischen Kommentar zu schaffen.

Eine Prognose erlaube ich mir trotz allem

Oder ist es schon wieder bloß ein Wunsch?

Die Folkwang UniversitĂ€t der KĂŒnste

Jetzt, formuliert aus der Perspektive eines Professors fĂŒr elektronische Komposition, was also ist die Aufgabe heutzutage?Meiner Meinung nach hat sie mindestens zwei Ziele: Wir mĂŒssen immer noch das Bewusstsein fĂŒr die Ă€sthetischen Vorteile der elektronischen oder digitalen Ansatzes in der Komposition sensibilisieren aber gleichzeitig haben wir das Ziel, das Feld Elektronische Komposition auszulöschen. Das ist natĂŒrlich eine seltsame und provokante Aussage, aber ich glaube, wir mĂŒssen an einen Punkt gelangen, an dem die Wahl der Komponistin zwischen akustischen Instrumenten gegenĂŒber der Elektronik nicht mehr auf einer strikten technischen Disziplinen oder gegensĂ€tzlichen Ă€sthetisch-philosophischen Weltanschauungen beruht, sondern lediglich eine musikalische Entscheidung ist. Anders gesagt: Ja, wir mĂŒssen rigoros die notwendigen AnsĂ€tze lernen und lehren, um die tiefsten Einsichten zu gewinnen und die meisten Vorteile aus den Techniken der elektronischen Musik zu ziehen, aber diese sollten fĂŒr die Komponistin so selbstverstĂ€ndlich werden, dass der Griff zu diesen Werkzeugen, zumindest was die technischen HĂŒrden angeht, kaum anders ist als die Entscheidung, fĂŒr das Klavier statt fĂŒr die Oboe zu schreiben. Irgendwann werden wir also Komposition studieren, praktizieren und lehren, mit welchen Mitteln und Ressourcen auch immer, die die musikalische Zielsetzung erfordert. Wenn wir das erreicht haben, dann verschwindet das elektronische in Komposition und wir haben nur noch Musik in all ihren vielfĂ€ltigen Facetten und Ästhetiken 4

Freiheit?

Als Schlusswort statt einer Fazit jetzt:

Das Wort Freiheit wird sehr missbraucht in der heutigen politischen SphĂ€re, aber Kunstwerke bieten die Zeit und den Raum an, in dem wir uns daran erinnern können, dass eine immer weiter existierende Freiheit vorhanden ist, anstatt einer, die fĂŒr die Zukunft versprochen wird. Kunst, und vielleicht vor allem Musik, die so abstrakt ist, konfrontiert uns mit unserer eigenen Freiheit: die Freiheit etwas Fremdes anzugehen, und dadurch zu lernen uns vertrauen zu können; die Freiheit uns zu entwickeln, neue VerstĂ€ndnisse zu integrieren und die Welt anders zu verstehen; oder die Freiheit abzulehnen, wenn das sein muss.

(Michael Edwards)

Ich bleibe allerdings optimistisch.

 

  1. David Sarnoff (1891 – 1971): Russian/American businessman, led RCA (the Radio Corporation of America) from shortly after its founding in 1919 until his retirement in 1970.
  2. Zitat aus dem Computer Music Journal, Vol. 25, No. 4 (Winter, 2001), Letters,  Is Tape Music Obsolete? Is Spatialization Superficial? aber zuerst aus MusikTexte 88 (Februar 2001)
  3. Französisch: “l’incrĂ©dulitĂ© Ă  l’égard des mĂ©tarĂ©cits”
  4. Und schließlich ist Musik seit der Erfindung der ersten Instrumente hochtechnologisch, so dass es wirklich keinen Grund gibt, die Unterscheidung zu forcieren.

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